1. Frühzeit der Urgemeinde (30–100 n. Chr.)
1.1 Yehshua und die ersten Jahre (30–33 n. Chr.)
- 1.1.1 Dienst, Kreuzigung und Auferstehung von Yehshua
1.1.1 Dienst, Kreuzigung und Auferstehung von Yehshua
Der öffentliche Dienst von Yehshua HaNotzri („Yehshua, der Nazarener“) begann zwischen 27–30 n. Chr. mit seiner Taufe durch Jochanan (Johannes) am Jordan (vgl. Mattitjahu 3,13–17).
Die Bezeichnung HaNotzri (הַנּוֹצְרִי) erscheint erstmalig in Mattitjahu 2,23:
„Und er kam und wohnte in einer Stadt, die Nazareth heißt, damit erfüllt würde, was durch die Propheten gesagt ist: Er wird ein Nazarener genannt werden.“
Obwohl sich diese Aussage auf keine konkret benannte prophetische Stelle in den überlieferten Schriften bezieht, vermuten viele frühjüdische und christliche Kommentatoren einen Bezug zu Jesaja 11,1, wo von einem Netzer (נֵצֶר – „Spross“) aus dem Stumpf Isais (Vater Davids) die Rede ist. Es bleibt aber auch möglich, dass sich der Autor des Matthäusevangeliums auf eine mündlich tradierte prophetische Aussage eines damaligen Propheten bezog, die zur Zeit Yehshuas bekannt war, jedoch heute nicht mehr dokumentiert oder überliefert ist. Angesichts fehlender anderer Anhaltspunkte wird jedoch Jesaja 11,1 von der Mehrheit der Ausleger als wahrscheinlichste Quelle herangezogen:
„Und ein Zweig wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen.“
Die lautliche Nähe von Netzer und Notzri diente offenbar als sprachlich-theologisches Bindeglied, um Yehshua mit dem verheißenden messianischen Spross Davids zu identifizieren. Dies war im ersten Jahrhundert eine weit verbreitete messianische Erwartung. Zugleich lässt sich argumentieren, dass nicht nur der Titel Notzri von Netzer abgeleitet sein könnte, sondern auch der Ortsname Nazareth selbst.
Der hebräische Name für Nazareth, נָצְרַת (Natzrat), teilt dieselbe dreikonsonantige Wurzel נ-צ-ר (N-Tz-R), die sowohl „bewahren“, „schützen“ als auch „sprossen“ bedeuten kann. Es ist daher sprachlich denkbar, dass der Ortsname ursprünglich mit dem Gedanken an eine bewahrte Linie oder einen „Spross“ Davids in Verbindung stand – also eine theologische Ortsbedeutung trug, welche in messianischer Hoffnung verankert war.
Daraus ergibt sich ein faszinierender Zirkel der Bedeutung: Yehshua stammt aus einem Ort, dessen Name möglicherweise bereits Netzer-Theologie in sich trägt. Er selbst wird HaNotzri genannt, was ihn sowohl geographisch als auch prophetisch zum Träger des Begriffs macht. Diese doppelte Bedeutung – Spross (Netzer) und Nazarener (Notzri/Natzrat) – verstärkt die messianische Deutung und könnte ein Grund gewesen sein, warum Mattitjahu 2,23 bewusst schreibt: „Er wird Nazarener genannt werden.“
HaNotzri wird im Neuen Testament zur Signatur von Yehshua: In Markus 1,24 wird er von einem Dämon als „Yehshua HaNotzri“ bezeichnet, ebenso in Lukas 4,34. In Johannes 19,19 ist „Yehshua HaNotzri, König der Juden“ die Inschrift über dem Kreuz. Die Bezeichnung hatte also zur Zeit seines öffentlichen Wirkens eine klare geografische wie auch theologisch messianische Dimension.
Zur selben Zeit wurde der Begriff in rabbinischen Kreisen zunehmend negativ besetzt. Im Traktat Sanhedrin 43a des Babylonischen Talmud wird ein gewisser Yeshu HaNotzri erwähnt, der „an Erev Pesach gehängt“ wurde – ein deutlicher, wenn auch feindseliger Verweis auf Yehshua. Der hebräische Begriff für „gehängt“ (תָּלוּי, talui) wurde in rabbinischer und römischer Zeit nicht ausschließlich für das Erhängen im heutigen Sinne verwendet, sondern konnte auch auf die Kreuzigung (hebr. הִצְלִיב, hitzliv) angewendet werden, insbesondere dann, wenn das Opfer nach dem Todesurteil an einen Pfahl oder Holz gehängt wurde, wie es in Devarim (5. Mose) 21,22–23 beschrieben ist:
„Wenn jemand eine Sünde begeht, die des Todes würdig ist, und er wird getötet und du hängst ihn an ein Holz, so soll sein Leichnam nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn gewiss begraben […] denn ein Gehängter ist ein Fluch Gottes.“
Dieser Vers bildete die Grundlage für die rabbinische Deutung, dass ein öffentlich aufgehängter Leichnam als besonders verflucht galt. Der Kontext von Devarim 21,22–23 beschreibt eine Situation, in der ein bereits getöteter Verbrecher zur öffentlichen Abschreckung an ein Holz gehängt wird. Der hebräische Ausdruck für „hängen“ (talui, תָּלוּי) steht dabei nicht zwingend für das Töten durch Erhängen, sondern betont den Akt des Sichtbarmachens am Holz. In der rabbinischen Tradition galt solch ein Gehängter als von Gott verflucht, was dem sozialen und religiösen Stigma eine besondere Schärfe verlieh.
Das „Hängen“ in Sanhedrin 43a kann deshalb sehr wohl im Licht dieser Tora-Vorschrift als Bezug auf eine Kreuzigung verstanden werden – insbesondere, da die römische Praxis genau dieses Schema erfüllte: ein Mensch wird zum Tode verurteilt, durch Annageln oder Anninden an ein Holz (Pfahl/Kreuz) getötet und sein Leichnam bleibt zeitweise öffentlich sichtbar. Die römische Kreuzigung verband somit physische Tötung mit öffentlichem Hängen als Abschreckung, was in jüdischen Augen die Devarim-Stelle direkt aufgriff und ihre Bedeutung in messianischer Deutung tragisch erfüllte.
Aus Sicht der Nazarener war dies eine doppelte Erfüllung: die Kreuzigung Yehshuas entsprach sowohl der Verfluchung des Gerechten durch die Welt (Psalm 22, Jesaja 53) als auch der prophetischen Bildsprache von Devarim 21. Die Gegner hingegen sahen in dieser Art des Todes den Beweis dafür, dass Yehshua nicht der Messias sein konnte, da „ein Gehängter verflucht Gottes ist“ – genau diese Stelle zitiert Paulus in Galater 3,13 im gegenteiligen Sinne: dass Yehshua den Fluch auf sich nahm, um andere davon zu befreien.
Der Kontext von Sanhedrin 43a legt außerdem nahe, dass Yeshu HaNotzri wegen „Verführung Israels“ (מַסִּית, masit) verurteilt wurde – ein Vorwurf, der im Judentum schwer wog und typischerweise auf falsche Propheten oder Abweichler von der Tora angewandt wurde (vgl. Devarim 13). Dieser Vorwurf ist jedoch aus Sicht der Nazarener nicht haltbar. Yehshua widersprach der Tora nie, sondern erfüllte sie vollständig (vgl. Mattitjahu 5,17–19). Seine Lehren waren fest in der Schrift verwurzelt und riefen zur Umkehr, Gerechtigkeit und Reinheit zurück. Auch seine Werke – Heilungen, Befreiungen und Zeichen – bestätigten ihn als von Elohim gesandten Propheten wie Mose (vgl. 5. Mose 18,15). Daher kann Yehshua gemäß den Kriterien der Schrift (vgl. Devarim 13 und 18) kein falscher Prophet gewesen sein.
Dass diese rabbinische Quelle Yehshua überhaupt erwähnt, zeigt, dass seine historische Existenz, sein öffentlicher Einfluss und sein Tod zur Zeit des Pesach im kollektiven Gedächtnis präsent waren – wenn auch aus dezidiert ablehnender Perspektive.
Yehshua lehrte in ganz Judäa und Galiläa das „Malchut Elohim“ (Königreich Gottes, Lukas 4,43) und forderte eine Rückkehr zur wahren Tora-Treue, zur Umkehr (hebr. תשובה, Teshuva) und zu Gerechtigkeit. Seine Lehre unterschied sich deutlich vom Pharisäertum und Sadduzäertum durch ihre autoritative Anwendung der Tora, durch Gleichnisse, prophetische Deutung und geistgewirkte Vollmacht (vgl. Mattitjahu 5–7, sog. „Bergpredigt“).
Er berief zwölf Talmidim (Jünger), die er als Repräsentanten der zwölf Stämme Israels auswählte (Mattitjahu 10,1–4). Sie wurden beauftragt, Dämonen auszutreiben, Kranke zu heilen, das Königreich zu verkünden und weitere Jünger zu machen – also Nachfolger heranzubilden, die ebenso in der Tora und dem Geist des Königreiches leben und lehren sollten (vgl. Lukas 9,1–2; Mattitjahu 28,19–20). Yehshua stellte zentrale biblische Wahrheiten wieder her, insbesondere das Verständnis des Schabbats (vgl. Mattitjahu 12,8) und die prophetische Auslegung der Tora.
Im Jahr 30 n. Chr., zur Zeit des Pesach, vollzog sich die letzte Woche Yehshuas auf Grundlage des biblischen Kalenders, nicht nach römisch-kirchlicher Tradition. Die folgende Übersicht zeigt den genauen biblischen Ablauf im Vergleich zur späteren römisch-traditionellen Darstellung:
Biblischer Kalender (mit Bezug zum Opferlamm Yehshua):
- 10. Aviv – Sonntag: Yehshua zieht in Jerusalem ein (Mattitjahu 21,1–11), genau an dem Tag, an dem nach 2. Mose 12,3 das Pesachlamm ausgesondert werden sollte. Yehshua wird somit als das wahre Lamm Elohims vorgestellt (vgl. Johannes 1,29).
- 14. Aviv – Donnerstag: Yehshua wird am Tag der Schlachtung der Pesachlämmer gekreuzigt (Johannes 19,14), zur 9. Stunde (ca. 15:00 Uhr; Mattitjahu 27,46–50), exakt zur Zeit der Lämmeropfer im Tempel (2. Mose 12,6).
- 14. Aviv – Donnerstagabend vor Sonnenuntergang: Yehshua wird ins Grab gelegt (Lukas 23,53–54), noch vor Beginn des 15. Aviv.
- 15. Aviv – Freitag (Hoher Schabbat): Beginn des Festes der Mazzot (ungesäuerte Brote), ein heiliger Tag (vgl. 3. Mose 23,6–7). Yehshua ruht im Grab.
- 16. Aviv – Samstag (wöchentlicher Schabbat): Zweiter Tag im Grab. Yehshua liegt weiterhin „im Herzen der Erde“ – zweite Nacht und dritter Tag. Genau zu Ende dieses Schabbats (zwischen Sonnenuntergang und Nacht) wird Yehshua vom Vater auferweckt – noch am Schabbat!
- 17. Aviv – Sonntag (nach Schabbat, bei Morgendämmerung): Die Frauen finden das Grab leer (Mattitjahu 28,1). Das Grab ist bereits offen, nicht zu dem Zeitpunkt, als Yehshua aufersteht, sondern weil er bereits auferstanden ist.
Dies stimmt exakt mit Mattitjahu 12,40 überein:
„Denn gleichwie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des großen Fisches war, so wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.“
Zeiteinteilung gemäß biblischem Tagesbeginn bei Sonnenuntergang:
- Donnerstag (14. Aviv), ca. 15 Uhr – Tod Yehshuas
- Donnerstagabend – Erste Nacht im Grab (Beginn 15. Aviv)
- Freitag (15. Aviv) – Erster Tag
- Freitagabend – Zweite Nacht (Beginn 16. Aviv)
- Schabbat (16. Aviv) – Zweiter Tag
- Schabbatausgang – Dritte Nacht (Beginn 17. Aviv), Auferstehung gegen oder kurz nach Sonnenuntergang
Damit ergibt sich exakt drei Tage und drei Nächte, wie Yehshua selbst ankündigte. Seine Auferstehung geschieht am Schabbat, gegen Ende des Tages – als Zeichen der Vollendung, Ruhe und Erlösung.
17. Aviv (Sonntag, frühmorgens): Das leere Grab wird entdeckt. Die Frauen kommen „beim Anbruch des ersten Tages“ (Mattitjahu 28,1), Yehshua ist jedoch bereits auferstanden.
Der erste Tag der Woche bezeugt nicht den Moment der Auferstehung, sondern den Moment der Entdeckung. Yehshuas Auferstehung geschah – gemäß biblischer Logik – am Schabbat, kurz nach Sonnenuntergang, am Übergang zu Yom Rishon.
Yom HaBikkurim (17. Aviv): Yehshua erscheint als Erstling der Auferstehung, parallel zur Darbringung der Erstlingsgarbe (3. Mose 23,10–11).
„Nun aber ist Yehshua von den Toten auferweckt, der Erstling der Entschlafenen.“ (1 Korinther 15,20)
Anmerkung zur Tradition: Die kirchliche Darstellung („Karfreitag – Ostersonntag“) führt zu maximal zwei Nächten und einem vollen Tag, was der Schriftstelle in Mattitjahu 12,40 widerspricht. Nur das biblische Verständnis der Zeit – von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang – erklärt die prophetische Genauigkeit.
Fazit: Yehshua wurde am 14. Aviv geopfert, ruhte vollständig am Schabbat (16. Aviv) im Grab und wurde am Ende dieses Schabbats auferweckt – nicht am Sonntagmorgen, sondern dieser bezeugt nur das leere Grab. Dadurch erfüllt er sowohl die Bedeutung des Schabbats (Ruhe und Vollendung) als auch das Erstlingsopfer (Yom HaBikkurim).
Nach seiner Auferstehung erschien er über einen Zeitraum von 40 Tagen hinweg zahlreichen Zeugen (vgl. Apostelgeschichte 1,3; 1 Korinther 15,3–8), lehrte über das Reich Elohims und bereitete seine Talmidim auf die Ausgießung des Ruach HaKodesch an Schawuot vor. Die Auferstehung an Yom HaBikkurim und die Erfüllung der Festzeiten macht deutlich, dass Yehshuas Tod und Auferstehung präzise auf die prophetische Struktur der biblischen Feste abgestimmt war. Seine Auferstehung bildet das unerschütterliche Fundament für den Glauben und die Hoffnung der Urgemeinde.
Yehshua übertrug seinen Talmidim kurz vor seiner Himmelfahrt den Auftrag, alle Nationen (hebr. Gojim) zu lehren und sie in seinem Namen zu taufen (vgl. Mattitjahu 28,18–20), wobei er betonte, dass seine Autorität im Himmel und auf Erden liegt. Die Himmelfahrt (vgl. Apostelgeschichte 1,9) leitete den Übergang zur Führung durch den Ruach HaKodesch ein, der an Schawuot (Pfingsten) in besonderer Weise ausgegossen wurde (Apostelgeschichte 2).
- 1.1.2 Berufung der Apostel
Nach dem Beginn seines öffentlichen Dienstes berief Yehshua zwölf Talmidim (Jünger), wie es in Mattitjahu 10,1–4 berichtet wird. Diese Auswahl symbolisiert die Wiederherstellung der zwölf Stämme Israels und war ein bewusster prophetischer Akt gemäß Jesaja 11,12 und Hesekiel 37. Diese Jünger trugen den Auftrag, nicht nur das Malchut Elohim (Königreich Elohims) zu verkünden, sondern auch eine neue geistliche Identität zu begründen – als Kern der Nazarener-Bewegung (Notzrim, נוֹצְרִים).
Die Bezeichnung der Jünger als Nazarener (vgl. Apostelgeschichte 24,5: „Anführer der Sekte der Nazarener“) bezieht sich direkt auf ihre Verbindung zu Yehshua HaNotzri. Obwohl sie sich selbst zunächst einfach als Jünger oder „Weg“ (ὁ ὁδός) bezeichneten (vgl. Apostelgeschichte 9,2), wurden sie bereits früh von Gegnern als „Notzrim“ stigmatisiert. Diese Bezeichnung wurde später von den Nazarener-Juden selbst übernommen, da sie die prophetische Verbindung zu Jesaja 11,1 (Netzer = Spross) und Yehshuas Herkunft aus Natzrat beinhaltete.
Die Berufung der zwölf geschah öffentlich und mit apostolischer Autorität. Yehshua sagte zu ihnen: „Folgt mir nach, und ich will euch zu Menschenfischern machen“ (Mattitjahu 4,19) – ein Ausdruck, der in direkter Verbindung zu Jeremia 16,16 steht, wo Elohim verspricht, Fischer und Jäger zu senden, um die Verlorenen Israels zurückzubringen. Diese zwölf Männer bildeten das Fundament der messianischen Qahal (Versammlung), auch Ekklesia genannt (gr. ἐκκλησία, hebr. קָהָל).
Namentlich überliefert sind: Shim’on Kefa (Petrus), Andreas, Ya‘akov Ben-Zewedaj (Jakobus), Yochanan (Johannes), Philippus, Bar-Talmai (Bartholomäus), Toma (Thomas), Mattitjahu (Matthäus), Ya‘akov Ben-Chalfai, Thaddäus (auch: Lebbäus), Shim’on der Kananäer und Jehuda Iskariot – letzterer wurde später durch Mattitjahu (nicht der Evangelist, vgl. Apostelgeschichte 1,23–26) ersetzt. Diese Männer wurden in der frühen Nazarener Literatur und bei den Kirchenvätern als die Begründer der Nazarener angesehen.
Die Bezeichnung „Nazarener“ in dieser frühen Phase (bis 33 n. Chr.) ist besonders deshalb relevant, da sie zeigt, dass die Bewegung von Anfang an eine eigenständige Identität innerhalb des Judentums hatte. Zwar feierten die frühen Nazarenerjuden teilweise noch gemeinsam mit nicht an Yehshua glaubenden Juden in den Synagogen, doch waren sie inhaltlich bereits klar von rabbinischer Lehre und mündlicher Überlieferung abgegrenzt. Sie lehnten insbesondere die autoritative Gültigkeit der rabbinischen Halacha, der Talmud-Traditionen und der pharisäischen Auslegungen ab, da sie sich ausschließlich auf die schriftliche Tora und die Lehre Yehshuas beriefen. Der Begriff „Notzrim“ erscheint in rabbinischer Literatur (z. B. im Birkat HaMinim) zwar erst ab ca. 80–90 n. Chr., doch die begrifflichen und inhaltlichen Wurzeln dieser Bezeichnung sowie die geistige und lehrmäßige Abgrenzung der Nazarener-Juden reichen bereits in die Zeit vor 33 n. Chr. zurück. Die Ablehnung der rabbinischen mündlichen Überlieferungen, der Halacha und der pharisäischen Auslegung war bereits zu Lebzeiten Yehshuas und in der frühen Bewegung der Apostel klar erkennbar (vgl. Mattitjahu 15,1–9; Markus 7,6–13). Auch wenn man noch in Synagogen mit nicht an Yehshua glaubenden Juden zusammenkam, war die Identität und Ausrichtung der Nazarenerjuden bereits eigenständig und unterscheidbar.
Diese Berufung war also nicht nur geistlich oder symbolisch – sie war historisch wirksam, begrifflich prägend und identitätsstiftend für das, was man später als Nazarenerjuden bezeichnen sollte: eine jüdische, tora-treue, aber auf Yehshua gegründete Bewegung, die innerhalb des ersten Jahrhunderts mehrfach bezeugt ist – sowohl in den Evangelien, der Apostelgeschichte als auch durch ihre Gegner.
- 1.1.3 Auftrag zur Verkündigung des Königreiches
Nach seiner Auferstehung übergab Yehshua seinen Talmidim (Jüngern) einen konkreten Auftrag, der nicht nur geistlich, sondern auch historisch und strukturell die Identität der Nazarenerjuden formte: die Verkündigung des Malchut Elohim (Königreich Elohims) innerhalb Israels und darüber hinaus unter allen Nationen (vgl. Mattitjahu 28,18–20). Dieser Auftrag war mehr als Evangelisation – er beinhaltete die Wiederherstellung des Bundesvolkes Israels unter Führung des wahren Messias und in Treue zur schriftlichen Tora.
Zentraler Bestandteil war die Anweisung, nicht nur zu lehren, sondern Talmidim (Jünger) zu machen – also Nachfolger, die ebenfalls in den Geboten Elohims wandeln und Yehshua als den gesandten Erlöser Israels bekennen. Dieser Auftrag spiegelt sich direkt in der Fortführung der prophetischen Linie Israels wider (vgl. Jesaja 49,6; 5. Mose 18,15–19).
Die Verkündigung war von Zeichen und Vollmacht begleitet (vgl. Apostelgeschichte 1,8; Markus 16,17–18), doch sie diente nicht der Machtdemonstration, sondern der Bestätigung der göttlichen Sendung Yehshuas. Der Auftrag der Nazarenerjuden umfasste insbesondere folgende Punkte:
- Die Rückführung der Verlorenen Schafe Israels (Mattitjahu 10,6; 15,24) – mit dem Ziel, die zerstreuten Stämme wieder geistlich zu sammeln.
- Die Taufe im Namen Yehshuas als Bundeszeichen des Glaubens an den Messias (vgl. Apostelgeschichte 2,38; 8,16).
- Die Unterweisung in der Tora im Licht der Lehre Yehshuas (Mattitjahu 5,17–19; Lukas 24,27).
- Das Zeugnis vor dem Volk Israel und den Nationen (Apostelgeschichte 1,8) – nicht als neue Religion, sondern als Erfüllung der Verheißungen.
Die Nazarenerjuden verstanden sich dabei nicht als „Kirche“, sondern als das fortgeführte, messianisch erfüllte Qahal Israel (Versammlung Israels). Ihre Identität als Notzrim war begründet in der Verbindung zu Yehshua HaNotzri und seinem Auftrag, das Volk zur wahren Tora-Treue zurückzuführen.
Dieser Auftrag wurde bis zum Jahr 33 n. Chr. in Jerusalem und den umliegenden Gebieten begonnen und entfaltete sich durch die Predigt von Shim’on Kefa (Petrus), Jochanan (Johannes) und besonders durch die Rede von Schaul (Paulus) bei seiner ersten Verteidigung (vgl. Apostelgeschichte 9). Noch war der Kreis auf Judäa, Samaria und einzelne Proselyten beschränkt – die Öffnung zu den Nationen erfolgte erst in der Zeit danach. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand der Auftrag der Nazarenerjuden darin, die Botschaft des auferstandenen Messias Yehshua innerhalb Israels zu verkünden, zur Umkehr zu rufen und ein geheiligtes Volk für Elohim vorzubereiten (vgl. 2. Mose 19,6; 1. Petrus 2,9).